Barrierefreiheit

Armutsdiskurse in Österreich

Medien- und Narrativanalyse

Rund 14 Prozent der österreichischen Bevölkerung gelten laut Statistik Austria als armutsgefährdet. Zwei Prozent leben in Armut und sozialer Ausgrenzung. Für sie kommen wenig Geld und schlechteste Lebensbedingungen zusammen. Dennoch ist dieses Thema stark tabuisiert. Das liegt auch an der medialen Berichterstattung. Während einige Armutsbetroffene in der Vorweihnachtszeit im Sinne der Wohltätigkeit eine Bühne bekommen, wird das Thema sonst kaum oder nur sehr polarisierend dargestellt.

Im Auftrag der gemeinnützigen Organisation LebensGroß, der Armutskonferenz sowie der Arbeiterkammer Wien führte MediaAffairs ausgehend von dieser Frage der Repräsentation von Armut und armutsbetroffenen Menschen in den österreichischen Medien eine Mediendiskurs- und Narrativanalyse durch. Basis dafür ist die gesamte Berichterstattung des Jahres 2024 ausgewählter, reichweitenstarker Printmedien (Kronen Zeitung, Heute, Österreich, Kurier, Die Presse, Der Standard, Kleine Zeitung). 

Basierend auf medientheoretischem Wissen über die Wirkweise und die diskurs-definierende Macht von Massenmedien sowie der Expertise der spezialisierten Analyst:innen von MediaAffairs wurden eine Vielzahl an Faktoren und Parametern erhoben. Diesen wurden Statistiken und Studien über die Verbreitung von Armut und Armutsbetroffenheit in der österreichischen Bevölkerung insgesamt, aber auch der Betroffenheit bestimmter, besonders vulnerabler Gruppen, gegenüber gestellt. 

Ein Bild von Maria Pernegger
Credit: Susanne Einzenberger

„Mediale Resonanz erzeugt im Kontext Armut vor allem, was emotionalisiert und polarisiert. Sichtbar wird, was laut und extrem ist. Die tendenziell leise und unsichtbare Alltagsarmut vieler Menschen bleibt auch in den Medien weitgehend verborgen.“

Maria Pernegger, Studienautorin und Geschäftsführerin von MediaAffairs.

 

Reden wir über Armut, reden wir über Menschen! 

Auffallend ist eine Diskrepanz zwischen der Verbreitung von Armutsbetroffenheit und Armutsgefährdung unterschiedlicher vulnerabler Gruppen und deren medialer Präsenz. 

Während die zahlenmäßig am stärksten betroffenen Gruppen verhältnismäßig deutlich weniger mediale Aufmerksamkeit erfahren, bekommen Geschichten rund um extreme Fälle und emotionalisierende Debatten eine größere Bühne.

Zu den unterrepräsentierten Gruppen zählen etwa:  

- ältere Menschen – gerade ältere alleinstehende Frauen sind häufig von Armut betroffen. 

- Working Poor & Arbeitslose – Laut Statistik Austria fallen im Jahr 2024 etwa 300.000 Menschen in Österreich in die Gruppe der Working Poor. Sie üben teilweise sogar mehrere Jobs aus, können von diesem Einkommen aber kaum leben. Über Working Poor oder auch den Zusammenhang von Langzeitarbeitslosigkeit und Armutsbetroffenheit wird kaum berichtet. 

Eine große Gruppe armutsgefährdeter Personen stellen chronisch kranke Menschen und Menschen mit Behinderung dar. Sie bilden einen relativ großen Anteil an der Gesamtbevölkerung und sind überdurchschnittlich von Armut und Ausgrenzung gefährdet – über diese Gruppe wird im Kontext Armut aber kaum gesprochen. Eine Ausnahme stellen Kinder mit Behinderung in der Charity-Berichterstattung dar. 

Insgesamt zeigt sich, dass Menschengruppen mit schwacher Lobby – oder die „stille“, öffentlich weniger sichtbare Alltagsarmut, welche bei Betroffenen oft schambehaftet ist, medial kaum thematisiert wird. Übrig bleiben Extremformen von Armut oder polarisierende Einzelfälle, die medial zum Selbstläufer werden.  

Auch in der Gesamtbetrachtung eines Jahres lässt sich eine ungleiche Verteilung der Berichterstattung über das Thema Armut erkennen, insbesondere rund um das Thema Charity, das eine deutliche saisonale Spitze rund um die Weihnachtszeit zeigt. Während armutsbetroffene Menschen ganzjährig vor Herausforderungen stehen, konzentriert sich die Wohltätigkeit saisonal mit dem Thema Charity. Auffallend ist hier auch die Inszenierung Armutsbetroffener als Betroffene von Schicksalsschlägen und die Zentrierung extremer Einzelfälle. 

Ähnlich verhält es sich ganzjährig mit dem Thema der Obdachlosigkeit und der vulnerablen Gruppe der Obdachlosen. Sie sind als Gruppe im Diskurs stark überrepräsentiert und auch der Themenkomplex an sich erfährt starke Aufmerksamkeit auf der medialen Bühne.  

Für die verhältnismäßig starke Berichterstattung können medienpsychologische Aspekte eine mögliche Erklärung liefern: Obdachlosigkeit ist schließlich eine besonders sichtbare, extreme Form von Armut, ganz nach dem Motto: „Wirklich arm ist, wer kein Dach mehr über dem Kopf hat“. Diese Sichtbarkeit unterscheidet Obdachlosigkeit von anderen Armutsformen, wie etwa von den Working Poor oder von Altersarmut, die häufiger versteckt im Privaten zu finden ist. 

Worum geht es? 

Auch in der Analyse der beleuchteten Themenkontexte werden starke Abstufungen sichtbar. Es zeigt sich, dass insbesondere stark emotionalisierende und extreme Einzelfälle einen beträchtlichen Anteil des Berichtsvolumens ausmachen, insbesondere im Kontext von Charity und Spendenaufrufen.  

Am anderen Ende der Skala erscheinen Themen rund um gesellschaftliche Teilhabe. Sie bilden den oft weniger besprochenen Aspekt der Ausgrenzung in der Erhebung von Armutsbetroffenheit und -gefährdung. Fehlende Möglichkeiten zur Teilhabe – an kulturellen Erfahrungen, an Bildungsmöglichkeiten und schlicht am sozialen Leben im Kaffeehaus und via Hobbies – führt zu Isolation und Vereinsamung.  

„Gesellschaftliche Ausgrenzung, über die zusätzlich nicht gesprochen wird, fußt letztlich in individueller Scham und diese erschreckende Dynamik gilt es mit guter, fundierter Berichterstattung zu brechen.“

Susanne Maurer-Aldrian, Geschäftsführerin LebensGroß, betont die Rolle des öffentlichen Diskurses in Fragen der Teilhabe

Deserving oder Undeserving

Die Berichterstattung rund um den Themenkomplex Mindestsicherung/Sozialhilfe orientiert sich ebenso an Einzelfällen und anekdotischer Berichterstattung. Hier tritt aber im Unterschied zum oben beleuchteten Themenkomplex Charity ein anderer, ebenso untersuchter Faktor besonders hervor:

Basierend auf Konzepten aus der soziologischen Armutsforschung wurde als Basis für die Beurteilung der transportierten Haltung gegenüber Armutsbetroffenen die Dimension der (zugeschriebenen) ‚Deservingness‘ untersucht. Als Begriff mit langer Geschichte in der Soziologie und zuvor ganz offiziell in Armutspolitiken basiert er auf der Annahme, dass Armutsbetroffene je nach Eigeninitiative, schuldhafter Eigenverantwortung an der Situation, Attitüde und weiteren Faktoren mehr oder weniger Unterstützung verdienen. Je nach Betonung und Verknüpfung dieser Faktoren ergeben sich Narrative, die beispielsweise Armut verharmlosen oder romantisieren, als individuelles Versagen verstehen, oder aber systemische Probleme beleuchten.

„Sie sagen und schreiben: „Armut ist selbstverschuldet.“ Wer arm ist, habe sich nicht genug angestrengt. Damit werden strukturelle Ursachen – ungleiche Bildung, prekäre Jobs, teure Mieten – ausgeblendet. Aus einem gesellschaftlichen Problem wird individuelles Versagen. Oder sie leitartikeln: „So schlimm ist es doch nicht.“ Leugnung und Verniedlichung. Solange niemand hungert, könne niemand wirklich arm sein.“

Martin Schenk, Sozialexperte der Armutskonferenz zu diesen bisweilen ausgrenzenden Narrativen.

Hier zeigt sich, dass die zugeschriebene Deservingness gegenüber Migrant:innen und Bezieher:innen von Transferleistungen wie der Sozialhilfe besonders gering ausfällt. Außerdem wird die Bedeutung medialer Diskurse als meinungsbildende Räume noch einmal deutlich: In solchen Fällen kann es mitunter zu sozialer Ausgrenzung durch mediale Konstruktion kommen und es werden Feindbilder geschaffen. So wird ein Stimmungsbild über den öffentlichen Diskurs anhand von einigen wenigen polarisierenden Beispielen erzeugt, welches das Stimmungsbild in der breiten Bevölkerung nachhaltig beeinflusst

 

„Wenn Berichterstattung Stimmungen statt Fakten transportiert, entstehen verzerrte Bilder und Feindbilder. Gute Politik braucht daher guten Journalismus: faktenbasiert, realitätsnah und sensibel gegenüber den Lebenslagen der Betroffenen. Umgekehrt muss Politik guten Journalismus unterstützen, indem sie Förderungen und Rahmenbedingungen entsprechend gestaltet.“

Norman Wagner, Experte für Sozialpolitik der Arbeiterkammer Wien 

Studien zum Download

Armut im öffentlichen Diskurs (2024)

Armut im öffentlichen Diskurs - Kurzfassung (2024)

Rückfragen
Mag.Maria Pernegger
Studienautorin
m.pernegger@mediaaffairs.at